Selfie

Hätte Narziss damals ein Smartphone besessen, dann hätte er wohl deutlich länger leben können. Denn statt sich in sein im Fluss gespiegeltes Antlitz zu verlieben und im Zuge dessen unglücklicherweise zu ertrinken, hätte der selbstversessene griechische Gott einfach tagein tagaus Selfies schießen können.

Als Selfie bezeichnet man ein mit dem eigenen Smartphone fotografiertes Selbstporträt, das man über Facebook, Twitter oder Instagram mit der Welt teilen kann. Das geht ganz einfach: Arm ausstrecken, irgendwie individuell gucken, klick – und schon können alle sogenannten Freunde sehen, wie gut ich heute aussehe / wie viel Spaß ich auf der Party habe / wie toll mein Urlaub auf den Seychellen ist / mit was für Berühmtheiten ich so abhänge.

Zwar hat die Kunstform des Selbstporträts bereits mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel, doch das Selfie hebt diese Form nun auf eine ganz neue Ebene. Ob Schönheitsideale und Geschlechterbilder damit nun verstärkt oder unterwandert werden, auf jeden Fall bringt das Selfie eine ganz eigene Bildästhetik hervor: die zur Entenschnabel-artigen Schnute geformten Lippen (Duckface), das leicht bekleidete Mädchen vorm Spiegel, der von oben fotografierte Myspace-Teenager, die gebräunten Beine am Strand. Für Papparazzi-geplagte Stars sind Selfies außerdem ein willkommener Weg, Authentizität und Fannähe zu zeigen, und dabei trotzdem das Bild von sich selbst in der Öffentlichkeit zu kontrollieren.

Es gibt allerdings auch Situationen, in denen es äußerst unangebracht ist, ein Selfie zu schießen: Bei einer Beerdigung etwa, vor einem brennenden Haus, neben einem Holocaustmahnmal, in KZ-Gedenkstätten oder wenn die schwangere Lehrerin im Klasseraum gerade ihre Wehen bekommt. Ist aber alles tatsächlich schon vorgekommen, dokumentiert in den unendlichen Weiten des Internets, in denen für die menschliche Dummheit stets ein gemütliches Plätzchen reserviert ist.

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